25.
Wenn man untertauchen will, geht das nirgendwo leichter als in New York. Mary Jane glitt sang- und klanglos aus ihrem bisherigen Leben und wurde zu einer Geistererscheinung. Sie verbrachte fast die ganze Zeit allein. Diese Tage mit endlosen Wanderungen durch New Yorks Straßen, bei denen sie nichts ausgab, nichts aß, mit niemandem sprach und die in einem trostlosen Zimmer endeten, waren von einer schier unerträglichen Leere.
Nur die Erinnerungen leisteten ihr Gesellschaft. Sie dachte daran, wie sie früher einkaufen gegangen war, wie sie mit Molly, Neil und der Truppe herumgealbert hatte. Und sie dachte an Sam.
Sie konnte ihn nicht vergessen. Je länger die Trennung währte, um so öfter dachte sie an ihn. So verblaßte seine Erscheinung nicht, ganz im Gegenteil.
Sie mußte hungern, trainieren, sich Operationen unterziehen und Heilungsprozesse abwarten. Alle Vorgänge, die ihr das Alleinsein aufzwangen. Doch Mary Jane lernte daraus. Sie begriff, daß sie mit allem fertig wurde, fast alles schaffte, was sie wollte, solange sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlor. Sie suchte keine neuen Bekanntschaften. Sie verwendete keinen Gedanken an neue Rollen, neue Kleider oder ein neues Buch, nicht einmal an eine gute Mahlzeit. Ihr Trachten richtete sich einzig auf die Perfektion ihres Körpers. Das bedeutete auch, daß sie sich mit dieser neuen Person vertraut machte, die sie einmal zu werden hoffte: einer schönen Frau. Dennoch fürchtete Mary Jane manchmal, in dieser erzwungenen Einsamkeit ersticken zu müssen.
Nach der dritten Operation verlor Mary Jane die Angst vor den weiteren. Sie hatte sich die Implantate genau angesehen, die ihre Wangen und ihr Kinn verbessern sollten. Dr. Moore hatte ihr die Schnittstellen gezeigt und wie sie versteckt werden konnten. Obwohl sie sich nun nicht mehr vor den Operationen fürchtete, litt sie unter heftigen Wundschmerzen. Ihr Gesicht sah entstellt aus. Sie vermied den Blick in den Spiegel.
Bei den Operationen wurde sie nur örtlich betäubt. Auf die Weise konnte der Chirurg besser beurteilen, wie die Haut über ihr Gesicht gezogen werden mußte. Doch sie litt darunter, die Gestalten in Gesichtsschutz und Kittel um sich herum zu sehen, zu hören, wenn am Knochen gearbeitet wurde. Entmutigen ließ sie sich davon nicht. Inzwischen trug sie Größe 38. Ihre Brüste wiesen zwar noch sichtbare Narben auf, zeichneten sich aber nun perfekt geformt unter ihren Blusen ab.
Bei der Chirurgie im Mundbereich wurde es so unerträglich, daß Mary Jane um eine Narkose bat, die sie auch bekam. Acht Zähne wurden gezogen, davon vier Weisheitszähne und vier völlig gesunde, die aber den anderen im Weg standen. Wie der Arzt sagte: »Ihre Zähne sind nicht zu groß, nur Ihr Mund ist zu klein.«
Die Zahnschmerzen hielten lange Zeit an. Ihr Kiefer wurde gebrochen und von Dr. Moore gerichtet. Sie konnte wochenlang kaum etwas essen und verlor noch einmal neun Pfund. Wenn sie sonst nichts zu tun hatte, konnte sie sich ablenken, indem sie ihre Rippen zählte.
Schlimmer noch als die Zahnschmerzen fand Mary Jane die Elektrolyse. Eine Französin, Michelle, beschäftigte sich mit Mary Janes Haaransatz und ihren Augenbrauen, nachdem Dr. Moore seine Arbeit dort abgeschlossen hatte. Die Haarwurzeln wurden mit dünnsten Nadeln ausgebrannt. Grauenvolle Stunden. Der Geruch verursachte Mary Jane Übelkeit.
»Es ist leichter, Ihren Haaransatz nach hinten zu verlegen, als Ihre Stirn zu verändern. Sie haben bildschönes Haar«, sagte Dr. Moore. Damit machte er ihr zum ersten Mal ein Kompliment.
»Meine Großmutter nannte es Indianerhaar. Es ist so dick und schwer, daß ich mich deswegen schämte.«
»In medizinischer Sicht scheint Ihre Großmutter ein Dummkopf gewesen zu sein«, befand Dr. Moore ungewohnt drastisch. Da mußte Mary Jane trotz ihrer Beschwerden lachen.
Sie mochte Dr. Moore. Sehr sogar. Während der langen, stets von Schmerzen begleiteten und langweiligen Aufenthalte im Krankenhaus, während der Untersuchungen in Dr. Moores spartanisch eingerichtetem Sprechzimmer, sogar bei seinen Telefongesprächen mit ihr behandelte er sie freundlich, mitfühlend. So, als sei sie eine echte Patientin, wie Raoul oder Winthrop oder das kleine Mädchen, das bei dem Autounfall Gesichtsverbrennungen davongetragen hatte oder all die entstellten Patienten, die sich von Dr. Moores Kunstfertigkeit ein Ende ihrer Qualen erhofften. Denn nur er konnte ihnen aus ihrer Vereinsamung heraushelfen.
Doch auch die eisernste Entschlossenheit muß gelegentlich vor finanziellen Gegebenheiten kapitulieren. Nach elf »Verfahren«, wie Miss Hennessey das nannte, besaß Mary Jane fast kein Geld mehr. Seit zweiundzwanzig Monaten hatte sie nicht mehr gearbeitet. Sie besaß nur noch das Haus in Scuderstown. Doch seit dem Tod ihrer Großmutter liefen darum Rechtstreitigkeiten. Ihre Großmutter hatte ihre Angelegenheiten in einem hoffnungslosen Durcheinander hinterlassen. Eigensinnig hatte sie darauf behaart, daß ihr Sohn erben sollte, Mary Janes Vater, obwohl er seit dreißig Jahren nur noch mit Hilfe von Apparaturen lebte und als geistiges Wrack bezeichnet werden mußte. Mary Jane hatte fest damit gerechnet, daß die Gerichte zügig zu ihren Gunsten entscheiden würden. Doch auch da hatte ihr die Großmutter einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Also schränkte Mary Jane sich noch mehr ein. Sie verkaufte den Verlobungsring ihrer Mutter. Doch die vierhundert Dollar, die sie dafür bekam, würden nicht lang reichen. Als sie nur noch tausend Dollar besaß, sah sie keinen anderen Ausweg mehr. Sie vertraute sich Dr. Moore an.
»Leider muß ich die nächsten Eingriffe verschieben.« Sie gab sich betont unbeteiligt, obwohl sie mit den Tränen kämpfte.
»Warum?«
»Aus persönlichen Gründen.« Mary Jane mochte Dr. Moore, wollte ihn aber nicht in ihre Probleme einweihen.
»Sie machen eine sehr schwierige Zeit durch. Das ist mir klar. Ihre Identität, Ihr Selbstwertgefühl, ästhetische Gründe, Schmerzen, Ängste und Narben. Sie fordern viel von sich. Kann ich oder können meine Leute Ihnen irgendwie helfen?«
Sie sah seine Sorge. Er glaubte, er habe sie überfordert und sie wollte es sich anders überlegen. Da gestand Mary Jane leise: »Ich hab kein Geld mehr.«
Brewster Moore brauchte eine Weile, bis er antwortete. »Ist das alles? Und ich dachte, Sie hätten es sich anders überlegt oder litten unter psychischen Störungen. Es geht nur ums Geld?«
»Nur?«
»Damit wollte ich sagen, daß sich da am ehesten ein Ausweg finden lassen wird.«
»Ich habe doch keine Arbeit. Und auch wenn ich irgend etwas finde, reicht es nicht für meine Miete und die Operationen. Darum muß ich alles verschieben, bis der Besitz meiner Großmutter endlich auf mich übertragen wird. Wenn das je der Fall ist.«
Nun standen doch Tränen in ihren Augen. Sie hatte sich allzu lange beherrscht. Auch ihre Kraft neigte sich dem Ende zu. Denn sie wußte nicht, wieviel Verzögerungen und Enttäuschungen noch auf sie warteten.
»Sagten Sie nicht einmal, daß Sie Krankenschwester sind? Sie könnten jetzt für mich arbeiten.«
»Mit Miss Hennessey? Nein, danke.« Die Sprechstundenhilfe verursachte Mary Jane noch immer eine Gänsehaut. Außerdem schien Miss Hennessey die wachsende Vertrautheit zwischen ihrem Chef und seiner Patientin übelzunehmen.
»So schlimm ist sie gar nicht.«
»Das sagen Sie, weil sie Sie verehrt«, widersprach Mary Jane.
»Es ist ganz angenehm, wenn man von jemandem bewundert wird, auch wenn es nur eine Miss Hennessey ist.« Er lachte. »Nein, ich hatte eigentlich daran gedacht, daß Sie den Kindern in der Klinik helfen könnten.«
»Raoul und den anderen?«
»Ja.«
Ihr Magen zog sich zusammen. »Ich glaube nicht, daß ich das kann.«
»Die Kinder würden an Ihrem Beispiel sehen, was man mit einer erfolgreichen Operation erreichen kann. Ihre Operationen sind nicht so außergewöhnlich wie die der Kinder. Doch als Vorzeigemodell würden Sie uns sehr wohl nützen können. Abgesehen davon brauche ich Hilfe, und Sie brauchen die Nasenkorrektur. Damit wäre beiden geholfen.«
»Es wird trotzdem sehr lang dauern, bis ich das Geld für die Operationen zusammengespart habe.«
»Da mache ich Ihnen einen Vorschlag. Wir bleiben bei unserem OP-Plan, und Sie bezahlen mich, sobald (Sie Ihr Vermögen freibekommen haben oder von Ihren künftigen Einnahmen. Außerdem wird die Klinik Ihnen kein Tagegeld berechnen, wenn Sie eine Angestellte des Hauses sind.«
Mühsam schluckte Mary Jane die Tränen hinunter. Er war so gut! Gut nur aus Mitleid und Großmut? Diktierte ihm der berufliche Stolz, das Projekt erfolgreich abzuschließen? Mary Jane beschloß, lieber nicht zu tief nachzuforschen. Sie war einfach dankbar.
So trafen sie ihre Vereinbarung.
Mary Jane saß an einem Ecktisch in einer dunklen Ecke des Chinarestaurants und aß ein gedünstetes Gemüsegericht. Es schmeckte nicht. Sie brachte es kaum hinunter. Teilweise hatte das mit ihrer Nervosität zu tun. Sie mußte am Nachmittag zum erstenmal zum Dienst in der Klinik von Brewster Moore erscheinen. Sie wußte ja, daß er dort die schwersten Formen von Gesichtsentstellungen behandelte. Was mußten diese armen, grotesk verunstalteten Patienten empfinden, wenn sie erfuhren, daß sie, ein ganz normaler Durchschnittsmensch, sich freiwillig solchen Operationen unterzog?
Früher hatte Mary Jane in Streßsituationen das Essen nur so in sich hineingeschaufelt. Diese Tage lagen hinter ihr.
Noch immer sah Mary Jane nicht gern in einen Spiegel. Dank Brewsters Skalpell besaß sie nun edel geformte Wangenknochen, ein zartes Kinn und eine keineswegs unnatürlich gestraffte Gesichtshaut. Nur die Nase hing noch immer grotesk in ihrem Gesicht. Sie wirkte sogar hässlicher als zuvor. Dr. Moore hatte darauf bestanden, daß die Rhinoplastik zum Schluß vorgenommen werden mußte, nachdem die anderen Operationen ausgeheilt waren. Und Mary Jane vertraute ihm. Sie sah gut aus in ihren enganliegenden Jeans, doch nicht attraktiv. Mitunter zweifelte sie daran, daß sich das je ändern würde. Zumindest erwartete sie, daß ihr die Tätigkeit in der Klinik wieder etwas Mut machte.
Das geschah tatsächlich. Schon nach einer Woche. Brewster Moore hatte Mary Jane zunächst gebeten, als Nachtschwester auszuhelfen. Nachts traten kaum jemals Probleme auf, die eine für dieses Gebiet geschulte Kraft erforderten. Mary Jane mußte Schmerzmittel verabreichen oder die Kinder trösten, denen Angst oder Unruhe den Schlaf raubten. Brewster hatte erklärt, daß den Kindern am besten geholfen wurde, indem man mit ihnen redete und ihnen Aufmerksamkeit schenkte. »Man muß sie auch ansehen. Die Menschen wenden sich im allgemeinen ab, sobald sie einer Entstellung gewahr werden. Sehen Sie die Kinder an! Nicht anstarren. Es ist für sie wie ein Geschenk, wenn man sie ansieht. «
Das verstand Mary Jane gut. Es war ein Geschenk, Anerkennung im Blick des Mitmenschen zu entdecken. Ihr neugestalteter schlanker Körper hatte ihr schon Pfiffe eingetragen. Wohlgemerkt nur von hinten. Bauarbeiter. Doch schon das hatte Mary Jane gefreut. Sie kannte das ja nicht. In sechsunddreißig Jahren war sie nie Ziel eines Pfiffes gewesen. Darum nahm sie sich vor, die Kinder anzusehen und ihnen das zu geben, was sie brauchten.
Auf der Station befanden sich einige Dutzend Patienten. Kinder wie alle anderen, abgesehen von den grauenvollen Entstellungen in ihren Gesichtern: unschuldig und verletzbar, neugierig und quicklebendig. Natürlich fühlte Mary Jane sich zu einigen mehr hingezogen als zu anderen. Sally, deren Schädeldecke sich zu früh geschlossen hatte, wodurch Kopf und Kiefer gräßlich deformiert wurden: Jennifer, ein dreijähriges farbiges Mädchen, deren Kurzköpfigkeit ihre Augen grotesk hervortreten ließ. Doch von der ersten Nacht an war es Raoul, der Mary Janes Herz gewann. Seit seiner Geburt vor zwölf Jahren hatte Raoul nur mit seinen Augen reden können. Er wurde in Südamerika ohne Zunge und Unterkiefer geboren. Er konnte nicht gestillt werden, weil sein Mund die Saugbewegung nicht schaffte. Also wurde Raoul ausgesetzt und landete bei Brewster Moore. Nun versuchte er mit einem neuen Mund und einer neuen Zunge eine fremde Sprache zu erlernen. Raoul brachte Mary Jane das Lachen wieder bei.
Er war ein lebhafter Junge. Sechs große Operationen an Mund und Zunge hatte er hinter sich, eine siebte stand bevor. Seine ersten drei Lebensjahre hatte er in einem Krankenhaus verbracht, die nächsten beiden in einem Waisenhaus. Weder das eine noch das andere hatte seinen starken Lebenswillen oder seine Liebesfähigkeit beeinträchtigt. Viel vermochte Raoul nicht zu sagen. Doch er konnte fast alles aufschreiben oder zeichnen. Mary Jane spielte stundenlang mit ihm Gesellschaftsspiele und brachte ihm ein Malbuch mit kleinen Zahlen, die er verbinden mußte, bis Bilder daraus entstanden. Das faszinierte ihn so sehr, daß er von sich aus solche Punkt- oder Zahlenzeichnungen erfand. In ihrer zweiten Woche auf der Kinderstation schenkte Raoul Mary Jane ein Bild, auf dem sie die Punkte verbinden mußte.
Sie nahm den Bleistift und folgte den Zahlen. Herauskam eine Krankenschwester, komplett mit flachen Schuhen und Namensschild. Doch als sie die Punkte im Gesicht verband, erkannte sie ihr eigenes Gesicht, die zarten Wangenknochen, die mandelförmigen Augen, die lächerlich große Nase. Sie nickte, versuchte zu lächeln. Da nahm Raoul ihr den Bleistift ab. »Linda Mary Jane«, schrieb er und sah sie strahlend an. Zunächst wußte sie damit nichts anzufangen. Doch dann fiel ihr ein, daß linda im Spanischen »hübsch« hieß. Sie sah in Raouls verwüstetes Gesicht. Nein, er meinte es nicht ironisch. Er meinte es ernst. Raoul war das erste männliche Wesen, das sie hübsch fand.
Häufig kam Brewster Moore am späten Nachmittag
auf die Station und besuchte die Kinder oder sprach mit den
verängstigten Eltern. Bei Raoul hielt Moore sich meist länger auf.
Anschließend trank er eine Tasse Kaffee mit Mary Jane. Darauf
freute sie sich. Wenn er einmal nicht erschien, schmerzte die
Enttäuschung. Sie spottete über sich selbst: Na fein, jetzt bin ich
schon so weit, daß ich wegen meiner Nase Komplexe und wegen meines
Arztes Liebeskummer habe. Es wird Zeit, daß ich mich mit einem
neuen Leben auseinandersetze.
Zum erstenmal fand Mary Jane Freude an ihrem Pflegeberuf. Den Gedanken, daß sie eines Tages die Kinder würde verlassen müssen, wie diese armen Kleinen schon einmal im Stich gelassen worden waren, fand sie unerträglich. Sie sagte sich, daß sie sich möglichst schnell hier losreißen mußte, bevor sie sich zu tief verstrickte.
So beschloß sie eines Nachts, nach der nächsten Operation in Richtung Kalifornien aufzubrechen. Es wurde Zeit, daß sie ihr enges, selbstgewähltes Gefängnis verließ.
Sie würde einen neuen Namen brauchen. Ihr Alter wollte sie künftig mit vierundzwanzig angeben. Auch wenn sie sich davor fürchtete, erneut zu versagen, wich sie nun innerlich nicht mehr vor dem Neuanfang aus.
Die Nasenoperation erfolgte in Etappen. Dr. Moore hatte eine Methode entwickelt, die es überflüssig machte, das Nasenbein zu brechen, was mit monatelangen starken Schwellungen bezahlt werden mußte. Der erste Teil der Prozedur lag nun hinter Mary Jane. Tagelang war sie den Blutgeschmack im Mund nicht losgeworden, wochenlang hatte sie nur unter Mühen Schlaf finden können. Das Lächeln schmerzte. Es verursachte Beschwerden, wie es hier diskret umschrieben wurde.
Die letzte Operation dauerte kaum eine Stunde. Mary Jane erhob sich vom Operationstisch. Sie fühlte sich nur ein klein wenig schwindelig. Ein weißer Gazeverband bedeckte ihre Nase. Nach einer ruhelosen Nacht packte sie am nächsten Tag ihre Sachen und kündigte ihr Zimmer. Sie arbeitete noch eine Woche in der Klinik und verabschiedete sich dann von den Kindern.
Monatelange Schmerzen, Warten auf Heilung und die nächsten Operationen hatten ein Ende gefunden. Nur der Verband auf der Nase mußte noch entfernt werden. Mary Jane fürchtete sich davor. Sie wagte es nicht allein, sondern ging damit zu Dr. Moore, ihrem einzigen Freund.
In dem Behandlungszimmer überfiel Mary Jane eine solche Woge von Nervosität, daß sie Dr. Moore am liebsten gebeten hätte, ihre Hand zu halten. Natürlich verbot ihr das die Schüchternheit. Doch Dr. Moore schien zu ahnen, was in ihr vorging. Er trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern. So veranlaßte er sie, zu einem Spiegel zu gehen. Dort nahm er ihr den Verband ab.
Mary Jane starrte ihr Spiegelbild an. Eine Fremde blickte ihr entgegen. Die Fremde hatte ein ovales Gesicht, ein festes Kinn, eine breite, glatte Stirn, dünne, leicht geschwungene Augenbrauen, feine Wangenknochen und eine edle, schmale Nase. Perfekt auch der scharfe Einschnitt unter der Nase und über der Oberlippe. Ja, Mary Jane war schön. Alles an ihr hatte sich verändert, bis auf ihre Augen.
Unwillkürlich hob sie die Hände an ihr Gesicht, um sich zu vergewissern, daß dieses schöne Gesicht wirklich zu ihr gehörte.
Dr. Moore ließ ihr viel Zeit. Mary Jane konnte sich von dem Spiegel kaum losreißen. Erstaunlicherweise empfand sie keine Befangenheit dem Arzt gegenüber. Vielleicht, weil er sie so intensiv ansah wie sie sich selbst.
Am Ende brach er doch das Schweigen. »Sind Sie zufrieden?«
Sie wandte sich ihm zu. »Danke! Ich danke Ihnen mehr, als ich es je in Worte fassen kann. Sie haben mir ein neues Leben geschenkt. Ihnen verdanke ich eine zweite Chance in meinem Leben. Ich werde immer in Ihrer Schuld stehen.«
Er wich ihrem Blick aus. Vielleicht machte sie ihn verlegen. Doch dann lächelte er sie wenig später wieder an. »Sind Sie für Ihr neues Leben gerüstet?«
Sie nickte stolz. »Ich habe alles fest geplant. Sogar einen neuen Namen. Ich werde nun Jahne heißen, Mary habe ich nie gemocht und Jane ohne das >h< wollte ich auch nicht.«
»Jahne Moran.«
»Nein, nicht Moran. Ich möchte auch einen neuen Nachnamen, wenn auch mit dem selben Anfangsbuchstaben. Ich würde mich gern Moore nennen. Oder macht Ihnen das etwas aus?«
»Im Gegenteil. Ich fühle mich geehrt.«
»Und noch etwas, Dr. Moore. Darf ich Ihnen schreiben? Ihnen und Raoul? Nur gelegentlich natürlich. Ich weiß ja, wieviel Sie zu tun haben. Und Sie brauchen meine Briefe auch nicht zu beantworten.«
»Damit würden Sie mir eine große Freude machen, und antworten würde ich Ihnen bestimmt.«
Jahne stand auf. Sie fand den Abschied schwerer als sie erwartet hatte. »lch möchte gern Raoul noch Aufwiedersehn sagen.«
»Darüber freut er sich sicher.«
»Hoffentlich erkennt er mich ohne den Verband.«
»Er ist ein Künstler und kann mehr sehen als andere. Er wird Sie erkennen, doch andere werden es nicht können.«
»Sind Sie dessen sicher?«
»Mary Jane, Sie sehen phantastisch aus. Wie vierundzwanzig. Sie haben einen flachen Bauch, schlanke Beine, hohe Brüste und ein vollkommenes Gesicht. Wer sollte Sie erkennen?«
Sie stimmte lächelnd zu.
»Mary Jane!« schrie Raoul ihr entgegen, als sie die Station betrat. Sie waren dicke Freunde geworden. Er zeichnete ihr immer neue Bilder, und sie brachte ihm kleine Geschenke. Der Junge würde ihr sehr fehlen. Seit sie sich um ihn so intensiv kümmerte, hatte sich seine Sprache entschieden verbessert. Doch als sie näher kam, veränderte sich sein Gesicht. Die braunen Augen strahlten nicht mehr.
»Buenos dias, Raoul. Was hast du denn?« Mary Janes Magen zog sich zusammen. Enttäuschte ihn ihr Aussehen?
»Hat das der Doktor mit dir gemacht?« fragte der Junge. Man konnte ihn nur mit Mühe verstehen, doch Mary Jane hatte sich an die Behinderung gewöhnt. Sie nickte.
»Jetzt wirst du fortgehen.«
»Woher weißt du das?«
»Weil du nun schön bist.« Tränen rannen ihm über das Gesicht.
»Ach Raoul!« Traurig nahm sie ihn in die Arme.
Mary Jane rief den Anwalt an, der sich um die Hinterlassenschaft ihrer Großmutter bemühen sollte. Leider hatte er noch immer nichts erreicht. Mary Jane unterbrach seinen Redestrom. »Mr. Slater, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Was glauben Sie, habe ich nach allen Abzügen am Ende zu erwarten?«
»Momentan sieht es auf dem Immobilienmarkt nicht so gut aus. Doch ich denke, vierzig- oder fünfzigtausend Dollar müßten es schon werden.«
»Wären Sie damit einverstanden, den Besitz statt einer Gebührenrechnung zu übernehmen und mir nur einen Scheck über zehntausend Dollar zuzusenden?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Kämpfte da die Geldgier mit der Moral? »Das ist ein bißchen ungewöhnlich, und es läßt sich auch noch nicht absehen, wann der Fall abgeschlossen und das Haus verkauft wird.«
»Das ist mir klar. Und das ist ja auch der Grund, warum ich mich mit so wenig begnügen würde. Sind Sie bereit, das Risiko auf sich zu nehmen?« Sie wußte, daß er ein so gutes Angebot nicht ausschlagen würde. Diese kleinen Provinzanwälte glichen sich am Ende alle. Jetzt, wo er ein eigenes Interesse an der Sache hatte, würde er sie in einer Woche abgewickelt haben. Mary Jane aber brauchte das Geld jetzt. Sonst konnte sie ihr neues Leben nicht finanzieren.
»Ja, das würde sich machen lassen«, stimmte er zu.
»Noch etwas, Mr. Slater. Ich möchte Sie bitten, meine Namensänderung gerichtlich eintragen zu lassen. Das ist für meine Karriere von Bedeutung.«
»Kein Problem, solange Sie unverheiratet sind. Ich brauche nur Ihren Geburtsschein und so.«
»Das habe ich alles und werde es noch heute in die Post geben. Ich erwarte aber auch, daß Sie meinen Scheck noch heute an mich abschicken.«
»Selbstverständlich«, versprach er.
Jahne bummelte über die First Avenue. Die Sonne erzeugte Reflexe auf ihrem Haar. Sie ging mit großen Schritten und einem winzigen Hüftschwung. Den übte und verbesserte sie ständig. Sie war zwar weder sexy noch schön von Natur aus, doch sie war Schauspielerin und hatte genügend Zeit gehabt, die Bethanies dieser Welt zu studieren.
Sie stellte sich an einen Geldautomaten. Ein dicklicher junger Mann stand vor ihr. Er sah sie, trat zur Seite und ließ ihr den Vortritt.
Das war der Tribut, der den Schönen von den Unschönen gezollt wird. Sie fragte ihren Kontostand ab. Sie besaß noch 694,18 Dollar und hob zwanzig Dollar ab.
Danach besorgte sie sich in einem Reisebüro ein Flugticket auf den Namen Jahne Moore nach Los Angeles. Ohne Rückflug.